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Architektur der Gegenwart und Vergangenheit
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Autor: Dietmar Steiner, Wien
Eine vom WienTourismus durchgeführte Gästebefragung bestätigt, dass Wiens Stadtbild bzw. seine Architektur für die Entscheidung, nach Wien zu reisen, den wichtigsten Faktor darstellt. Neben den für Wien bekannten Themen wie Kunst und Musik rückte somit die Architektur der Stadt als Grund des Besuches an prominenteste Stelle. Damit sind nicht einzelne Monumente und Spitzenleistungen der Architektur der Vergangenheit und Gegenwart gemeint, sondern eine Art allgemeines urbanes Empfinden, ein Gefühl für einen erlebbaren städtebaulichen Maßstab. Wien wäre aber nicht so, wenn es nicht durch wichtige Spitzenleistungen der Architektur jenes Niveau erreicht hätte, das die Stadt heute so attraktiv macht.
Tipp: Architekturführung in Wien
Wien ist eine Zwiebel
Wien ist zunächst eine geradezu idealtypische europäische Großstadt, wie Paris, London, Rom, Mailand oder Barcelona. Aber im Unterschied zu diesen sehr konzentriert und überschaubar. Viele nennen Wien eine einzigartige Zwiebel, jede ihrer rund ums älteste historische Zentrum angelagerten städtischen Schichten ist gleich wichtig für den gesamten Geschmack der Stadt. So ist in Wien die gesamte Tradition der europäischen Stadt vorhanden, von der römischen Gründung über die Gotik bis zu Barock und Gründerzeit. Und Wien ist, als Stadtbild vor allem, heute immer noch eine Stadt mit präsenter Geschichte. Dafür bieten die obligaten touristischen Institutionen die bewährten Besichtigungen, vom gotischen Stephansdom über das barocke Schloss Schönbrunn und vom Schloss Belvedere bis zum Gesamtkunstwerk der Ringstraße.
Vom Fin-de-siècle zum Roten Wien
Weltweit einzigartig ist die Wiener Architektur der inzwischen vorletzten Jahrhundertwende. Das Wien des "Fin-de-siècle" war schlechthin das Laboratorium der Moderne. Otto Wagners Meisterschule an der Akademie der bildenden Künste war dabei ein Zentrum der neuen Ideen. Hier entwickelten die jungen Architekten aus der Donaumonarchie ihre Visionen. Joe Plenik, der später Prag und Ljubljana nachhaltig prägte. Oder Jan Kotra, der zum Begründer der tschechischen Moderne wurde. Otto Wagner selbst war in der Gründerzeit ein Spezialist für Neo-Renaissance und zunächst ein ziemlicher Zinshaus-Spekulant. Wagners Wienzeile-Häuser sind dafür ein hervorragendes Beispiel: wunderschöne Majolika-Jugendstil-Fassaden, aber dahinter ganz normale schlecht belichtete Gründerzeitwohnungen. Und erst als ihm diese Entwicklung als ausweglos erschien, machte er in seiner Architektur einen radikalen Schnitt und wurde zu einem der großen Begründer der Architektur der Moderne.
Man war also nicht in Wien, wenn man Otto Wagners Postsparkasse nicht besichtigt hat. Sie ist mit ihrer Funktionalität und ihrer bald hundertjährigen beeindruckenden Glas-Stahl-Konstruktion der Kundenhalle ein weltweit gefeiertes Monument. Wagners revolutionäre Steinhof-Kirche und seine Konzeption und die Stationen der Stadtbahn sind weitere Ergänzungen, um das Wien der Geburt der Moderne zu verstehen. Ein Geheimtipp ist noch das Zacherl-Haus vom Wagner-Schüler Joe Plenik; und vor allem seine Krypta der Heiligen-Geist-Kirche auf der Schmelz, die wie ein katholischer Comic-Strip die Neudefinition der architektonischen Sprache erklärt. Selbstverständlich darf man auch das Gebäude der Wiener Secession von Wagner-Schüler Joseph Maria Olbrich nicht übersehen.
Jenseits und mit Otto Wagner war das Wien der letzten Jahrhundertwende ein enormes Kraftfeld kreativer Genies. Oskar Kokoschka, Peter Altenberg, Gustav Klimt, Egon Schiele, Sigmund Freud, Karl Kraus. Und mittendrin Adolf Loos, der Architekt. Ein Kultur- und Lebensreformer mit enormem polemischen Potential. Man kann mit Genuss seine Schriften lesen, aber nicht alle seine Bauten besichtigen. Seine Villen sind in Privatbesitz, und Besichtigungen praktisch nicht möglich. Aber sein provokantester Bau, das inzwischen sogar sogenannte "Loos-Haus" am Michaeler Platz, gegenüber der Hofburg, das damals den Kaiser veranlasste, alle Fenster mit Blick darauf zu verschließen, ist heute eine Bank und zumindest in den Publikumsbereichen zu den Öffnungszeiten auch öffentlich zugänglich. Ein Pflichtbesuch für Architekturtouristen ist zudem das Bekleidungsgeschäft Knie von Adolf Loos am Graben, das bis heute in seiner Substanz bewahrt ist, und auch den kulturellen Geist von Loos weiter pflegt. Jeder internationale Stararchitekt hat, wenn schon nicht einen Knie-Maßanzug, dann zumindest eine Krawatte in seinem Kleiderschrank. Obligat ist nächtens ohnehin der Kurzbesuch in der vorbildlich renovierten Loos-Bar im Kärntner-Durchgang.
Adolf Loos, wie gesagt auch ein Lebensreformer, arbeitete für die Wiener Siedlerbewegung. Damit sollten die elementaren Bedürfnisse der Wiener nach dem ersten Weltkrieg ganz unmittelbar befriedigt werden. Doch die neue sozialdemokratische Stadtverwaltung verfolgte ein anderes Ziel. Die "Superblocks" des Roten Wien waren als eigene Städte in der Stadt gedacht. Sie sollten die allgemeine Wohnungsnot der Armen beseitigen und gleichzeitig eine neue lebensumfassende Kultur etablieren. Diese Politik wurde zu einer eigenen Kultur des "Roten Wien". Die berühmteste städtebauliche Großform der Wiener Superblocks ist sicherlich der "Karl-Marx-Hof", aber die größte "Stadt" des Roten Wien ist der "Sandleitenhof". Es ist bis heute beeindruckend und einmalig, wie das arme Wien der Zwischenkriegszeit dieses soziale Programm kompletter Stadtteile mit einer umfassenden Infrastruktur verwirklichte. Die Formen und Bautechnologien dieser Städte in der Stadt waren gewiss konservativ, die Beschäftigung Arbeitsloser aber wichtiger als die Ideen der modernen Architektur, die auf Vorfertigung und Industrialisierung der neuen Stadt drängte.
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